Donnerstag, 16. Juni 2011

über die kunst - about art

anlässlich der vernissage im ttz
hat britt schneider
angehende kunsthistorikerin und künstlerfreundin
freundlicherweise die rolle der laudatorin übernommen
und mir erlaubt ihre gedanken zu unseren arbeiten
 in meinem blog zu veröffentlichen

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britt schneider, designated art historian and an artist friend
was kindly undertaking the task of holding the speech
introducing in our works on the occasion of the
vernissage at ttz
and allows to publish it at my blog

thanks a lot britt!!!!!!!!!





Kreaturen
Der Begriff „Kreatur“ stammt aus dem lateinischen, creatura bedeutet „Schöpfung“, creare „erschaffen“ und bezeichnet zunächst mal jedes erdenkliche Geschöpf. Die jedoch auch abwertende Bedeutung des Begriffs ist bereits seit dem 17. Jahrhundert bezeugt, z.B. als „erbärmliche Kreatur“ oder „abscheuliche Kreatur“.
Welche Konnotation sie den Kreaturen zukommen lassen möchten, die von Ute Lübbe und Tanja Reitz erschaffen wurden, dazu sind sie heute Abend herzlich eingeladen, sich Gedanken zu machen.

Zunächst möchte ich aber noch einige Worte zu den beiden Künstlerinnen und ihrem Werk verlieren.

Tanja Reitz beginnt im Jahr 2004 ihr Studium der freien bildenden Kunst an der FH Ottersberg und setzt dieses in Kombination mit dem Fach Kunstgeschichte ein Jahr später an der Uni Marburg fort.
Von Anfang an experimentiert sie künstlerisch mit verschiedensten Materialien, mit allem, was ihr in die Finger gerät, was ihr das Leben zu bieten hat. Sie verwendet vorwiegend Acrylfarben, verarbeitet diese jedoch in ihren Werken immer wieder mit außergewöhnlichen Werkstoffen wie Wachs, Gips oder Latex, collagiert und klebt Fotos und Gewebereste ein. Neben der Malerei fertigt sie Installationen und kreiert künstlerische Performances.
Auch in ihren jüngeren Arbeiten setzt sie weiterhin auf Mischtechniken, reduziert dabei ihr Repertoire jedoch zunehmend auf Acrylfarbe, Eitempera und Filzstifte, zum Teil kommt auch noch Latex zum Einsatz, auf klassischer Leinwand oder Papier, aber auch auf Bildträgern wie rohen Holzplatten oder Stoffresten.
Ihre Arbeiten sind persönlich und intim. Ihr Thema ist von jeher der Mensch, das Mensch-sein und ihr eigenes, ganz persönliches Mensch-sein, die Malerei Ventil und Mittel des Ausdrucks ihres Innersten, die Dokumentation von Entdeckungsreisen in die eigenen Abgründe; Gefühle, Geschichten, Erfahrungen, Wünsche, Hoffnungen, Bedürfnisse, Schmerzen und Leiden.
Was sie von diesen Reisen mitbringt, macht sie uns in verschlüsselter Form in ihren Bildern sichtbar, wählt ganz intuitiv ihre persönlichen Symbole, die für uns häufig nicht auf den ersten Blick zu decodieren sind, doch gerade das liegt auch gar nicht in der Absicht der Künstlerin, der zudem planmäßiges und berechnendes Vorgehen nicht liegt – Es ist nur so ein Gefühl, ganz aus dem Bauch heraus.
Den Rahmen und Raum für die Interpretation und die Deutung einzelner Bildelemente durch den Betrachter lässt sie ganz bewusst weit und offen.
Als Vorlage für ihre Malerei dienen ihr Fotos, die sie vorwiegend in Zeitungen, Büchern und Magazinen aufspürt, Bilder, die sie in irgendeiner Form berühren, Bilder von Menschen und Tieren, die sie  künstlerisch zu Transportmitteln ihrer persönlichen Themen umarbeitet und umdeutet.
Es sind gesichtslose Männer, melancholische Frauen, zarte Kinder, zerbrechliche Kind-Frauen mit traurigem Blick. Gebrochen wirkende Kreaturen, deren Konturen im Nebel verschwimmen, die sich aufzulösen und zu verschwinden scheinen.
Seit jeher beschäftigt sich Tanja Reitz auch mit dem Thema der „Nacktheit“, des „Sich-zu-erkennen-gebens“, „sich-frei-machens“, auch von gesellschaftlichen Konventionen. Die nackte Haut, die für sie immer wieder Motiv ist, steht für Verwundbarkeit und offene, bloße Angriffsfläche, die man bietet, wenn man sich traut, unangepasst zu sein, Individualität oder Schwäche zu zeigen. Eine Reihe von Bildnissen grotesker Nacktkatzen greift dieses Thema auf.
Eine besondere Verbindung fühlt sie zu Quallen, Medusen, die sie in mehreren  Bildserien und auch in Form eines Buches verarbeitet hat. Sie sagt, es sei die Schwerelosigkeit, die sie so sehr anzieht an diesen schwebenden, zauber- und irgendwie geisterhaften fluoreszierenden Gallert-Wesen – sie stellt sich ein Leben als Qualle ganz wunderbar vor und möchte am liebsten im nächsten Leben eine sein.

Tanja Reitz interessieren Gegensätzlichkeiten. Hart trifft zart, Freiheit aufs Gefesseltsein, lichte Leichtigkeit auf schwere Dunkelheit, Reinheit und Unschuld auf Wut und Gewalt.
 „Es muss einfach raus“, sagt sie und dass sie „manchmal einfach nicht aufhören“ kann. Ihre Obsession spiegelt sich in ihrer Malweise, nach dem Prinzip „Trial and Fail“, Versuch und Irrtum, lagern oft viele Malschichten übereinander, schimmert eine durch die nächste, wie fast vergessene Erinnerungen, Erfahrungen, die in ihrer Summe das Ganze bilden.
Tanja Reitz zerrt ihre und unsere Kellergeister ans Tageslicht.


Und so unterschiedlich ihr Werk stilistisch im Vergleich zu dem Ute Lübbes auch erscheint,  wühlt auch sie, Ute Lübbe, vielleicht geprägt durch ihre Tätigkeit als Psychiaterin, in den dunklen Ecken und Winkeln und findet dort das, was andere leicht übersehen, nicht sehen wollen, vor dem sie Ekel empfinden oder es achtlos zertreten.
Nach ihrem Studium der Grafik und Malerei an der Universität Marburg und der Eröffnung ihres Ateliers im Jahr 2005, beginnt Ute Lübbe sich in ihrer Arbeit erstmals intensiv mit dem Thema „Insekten“ auseinanderzusetzen, widmet sich dabei insbesondere den Käfern. Dazu inspiriert wird sie unter anderem durch die Lektüre der Erzählung „die Verwandlung“ von Franz Kafka.
Die Einleitenden Sätze dieser Erzählung dürften den meisten bekannt sein:

"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmingen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
`Was ist mit mir geschehen?´dachte er. Es war kein Traum."

Das Motiv des auf dem Rücken liegenden Käfers bedeutet für Ute Lübbe, so schreibt sie selbst, vor allem "eine Metapher für die Flucht in eine unbewegliche Situation", ein Totstell-Reflex als Reaktion auf übermäßigen Druck und nicht erfüllbare Erwartungen. Das Nicht-mehr-funktionieren führt in die soziale Isolation: erfüllt von Scham, Abscheu und Ekel bemühen sich in Kafkas Erzählung die Familienmitglieder Samsas den Schmarotzer, den Parasiten, der einst vor seiner Verwandlung noch als Ernährer der Familie funktionierte, vor der Außenwelt verborgen zu halten, bis sich dieser schließlich, sich selbst-verneinend und verleugnend und dem mehr oder weniger unverhohlenen Wunsch der Familie folgend, aus dieser Welt hungert.

Abscheu und Ekel rufen Ute Lübbes Arbeiten allerdings wohl kaum hervor.
Denn sie sieht genau hin, setzt sich auseinander, anstatt verbergen zu wollen. Sie sucht, sammelt, beobachtet, studiert und dabei entpuppen sich die lästigen Krabbler - Käfer und diverse andere Insekten, Mücken, Bienen, Ameisen… -  als faszinierende Kreaturen, gewiefte Überlebenskünstler von ganz eigener und eigenartiger Schönheit. Später gesellen sich weitere Wesen hinzu, die sich nur selten ans Tageslicht und in unser Bewusstsein verirren: von Fledermäuse, Meeresgetier, kleinsten marinen Larven bis hin zu Einzellern.

So vielfältig der Artenreichtum ist, auf den sie stößt, und so zierlich, klein- und feinteilig und facettenreich die Gestalt dieser Kreaturen, so verwendet und mischt sie in ihren Arbeiten auch die verschiedensten Techniken miteinander. Auf Papier und Leinwand zeichnet sie mit Blei- und Buntstiften in schillernden Farben, malt und überspachtelt mit Acryl, sprüht, druckt, arbeitet mit Schablonen, näht und stickt in die Leinwände, collagiert, arbeitet verschiedene Textilien und Papiere in ihre Werke ein.
Ihr medizinischer Bildungshintergrund und Forscherdrang wird in vielen ihrer Arbeiten deutlich sichtbar, so in der teilweisen Akribie der Darstellung des anatomischen Aufbaus der Tiere. Doch ist dies (wie bereits erwähnt) und im wahrsten Sinne des Wortes, nur „ein Teil“, ein „Fetzen“ ihrer Motivation: denn genüsslich zerschnippelt und zerreißt Ute Lübbe ihre alten anatomischen Lehrbücher, um Teile von trockenen, schematischen Darstellungen in ihren Bildern weiterzuverarbeiten,  sie mit lebendigen Zeichnungen oder ornamentalen Formen in leuchtenden Farben zu ergänzen und in Kontrast zu setzen.

Die Insektenleichen, die in Ute Lübbes Atelier in kleinen Glasbehältnissen ihre letzte Ruhestätte gefunden haben und denen die Ehre zukommt, ihr noch post mortem als Modelle und Inspiration dienen zu dürfen, besitzen nach der künstlerischen Umarbeitung nichts ekelhaftes, abstoßendes, beängstigendes mehr. Lebendig, bunt und fast fröhlich wirken sie, auch fein, elegant und zerbrechlich, wenn die Künstlerin sie, wie häufig, nur auf ihre Umrisslinien reduziert und abstrahiert. Sie behalten dabei jedoch auch stets einen Hauch des Fremdartigen.
Der Spaß, die Leidenschaft und die Obsession, mit der Ute Lübbe an ihrem Thema arbeitet, ist nicht zu übersehen.

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